Aus einem Gespräch

Der große Krieg hat den Kampf um Arnold Schönberg verstummen lassen. Eigentlich: den Kampf zwischen Schönberg und den Massen um die Kunst, der er und jene oft so grundverschieden gegenüberstehen.
Man hat eben andere Begriffe bekommen; kehrt sich nur dem Glatten, Problemlosen oder längst Vertrauten zu; hat es verlernt, Krieg zu führen für oder gegen eine Kunst; sucht Ruhepunkte dort, wo man im belebenden Streit früher sich ereiferte … Goldene Tage! War’s auch nicht immer schön, was der Widerstreit der Meinungen um Schönberg hervorbrachte! Gab’s auch Skandal- und Gerichtsverhandlungen! Ein schöner Rechtsstreit war’s darum doch: ein Streit um das Recht eines verwegenen Neuerers der Töne, der Glaubwürdiges genug geschaffen hat, um den anderen die Pflicht aufzuerlegen, ihn solange zu hören, bis die Zeit für oder wider ihn entscheiden hat – war’s nun einmal nicht möglich, ihn gleich zu verstehen.
Allerdings: die Zeiten taugen jetzt wirklich nicht für solch künstlerischen Werdegang der Hörer. Der Sammlung und Ruhe bedarf es, soll künstlerischem Fortschritt wertvoller Boden bereitet sein. Doch dem einen Schönberg freilich gehört auch die Gegenwart: dem Lehrer und Neuerer der Theorie. Denn ein solcher braucht vor allem Vernunft. Und je vernünftiger man jetzt ist, desto besser. Der Lehrer Schönberg ist aber gar so vernünftig, so klar vorwärts blickend und bei aller schöpferischen Kraft auf diesem Gebiete so leicht gestaltend, daß man das Geniale seines Neuerertums in einer Kraftleistung des eigenen Auffassungsvermögens gar nicht zu spüren bekommt.
Und diesem Lehrer galt mein jüngster Besuch. »Also nicht mehr Lehrer und Meister, wie bisher, wollen Sie sein,« lautet meine erste Frage, »eine ganze, richtige Schule wollen Sie nun gründen?«

»Ich muß wohl – allmählich«, sagt er. »Ich verfolge als Lehrer meine eigenen Pläne, eine neue, ganz eigene Methode und die muß mal hinaus in die Welt. Wissen Sie: das Lehren und Lernen nach dem Büchel will ich vermeiden. Das Kapitellesen seitens Schüler und Lehrer ist nichts wert. Der Schüler bekommt beim starren Lehrplan meist nur zu hören, was ihn eben gar nicht interessiert. Darum habe ich meinen Lehrkursen, die ich Seminar für Komposition nenne, ein vollkommen neues, freies System zugrunde gelegt, nämlich so:
Eine bestimmte Tageszeit gehört ganz allen meinen Schülern zugleich. Jeder Schüler kommt dann, wenn er lernen will, wenn er dies oder jenes zu wissen begierig ist. Der Gegenstand der Lektion ist nicht festgelegt, sondern dem freien Bestimmen des Schülers unterstellt. Also niemals hübsch der Reihe nach: Harmonielehre, Kontrapunkt, Instrumentationslehre … sondern alles ganz nach freier Wahl.
Der nähere Lehrvorgang ist dabei folgender: Ich und meine Schüler treffen im Lehrzimmer möglichst zwanglos zusammen. Und nun fragt einer dies oder jenes; und ich antworte, dem Umfang der Frage entsprechend, vielleicht auch darüber hinaus; je nach dem, ob ich das für den Fragesteller für gut halte oder nicht. Vielleicht antworte ich auch gar nicht, weil ich im Augenblick zu dem betreffenden Gegenstand keine Neigung habe; und vielleicht schicke ich dann und wann die erschienenen Schüler überhaupt nach Hause, weil ich den Tag gerade für den Unterricht nicht disponiert bin und als Lehrer nur wenig oder gar nichts bieten könnte. Habe ich aber die gestellte Frage beantwortet, so kommt der nächste dran und möglichst der, dessen Frage sich der vorhergehenden am besten anschließt und so fort.
Natürlich wird dieses System nicht so – systemlos sein, als nach dieser kurzen Beschreibung geschlossen werden könnte. Es werden aller Freiheit jene Fesseln angelegt sein, damit auch Ordnung herrscht.«

Forschend, ob ich recht verstanden habe, sieht mich Schönberg an. Ich muß ihm beistimmen. Denn für die Entwicklung des wirklichen Künstlers, die vollkommen aus sich selbst heraus erfolgt, ist er im Begriff, die richtige Methode zu schaffen. Es wäre ein Idealzustand künstlerischen Unterrichts, sollte Schönbergs Schule für das Negativ individuellen Lerneifers das entsprechende Positiv gefunden haben.

»Ich verbinde mit dieser Idee auch eine Reform sozialer Natur«, fährt Schönberg fort. »Ich habe diese bereits seinerzeit in Vorschlag gebracht, als ich meine Berufung an die Akademie erhielt, zu der ich mich schließlich ablehnend verhalten mußte. Man sagte mir, daß der Staat eine solche Reform nicht übernehmen könne, worauf ich nur erwidern kann: Wer denn anderer als der Staat? – Diese Umbildung besteht nämlich in der Bestimmung des Honorars durch Selbsteinschätzung des Unterrichtsnehmers. Sofern ich diesen Vorgang als staatliche Einrichtung im Sinne habe, stell ich mir die Bemessung des Unterrichtsgeldes auf Grund des Steuerzettels vor … Als Privatmann kann ich diesen Weg nun freilich nicht einschlagen. Ich kann mir nicht beimessen, das amtliche Dokument zu fordern, um meinem Schüler oder dem, der die materiellen Lasten für ihn zu tragen hat, in die Tasche zu sehen. Darum sage ich eben: jeder zahlt, soviel als er seinen Verhältnissen gemäß kann … Ich sehe doch wirklich nicht ein, warum der Reiche nur ebensoviel zahlen soll wie der Arme. Ist das Schulgeld für alle gleich, so spürt der Reiche die Ausgabe gewöhnlich gar nicht, während sich der Unbemittelte dieselbe oft vom Munde absparen muß.«

So sehr ich Schönberg grundsätzlich in allem recht geben mußte, gegen seine Reform des Unterrichtsgeldes – ohne Steuerbogen – hätte ich doch einige Bedenken äußern mögen. Ist denn wirklich mit der vollen Aufrichtigkeit der Leute zu rechnen? – Anderseits wieder: Werden ihm nicht zahllose Schüler zulaufen, denen man um die Hälfte zuviel Ehre antut, wenn man sie Halbtalente nennt?
Doch ich unterließ solche Gedanken und zog es vor, mich in dem Idealismus des prächtigen Menschen zu sonnen.
Weiter erzählte mir dann Schönberg von seinen neuen, beziehungsweise noch nicht aufgeführten Kompositionen: zwei gedruckte Bühnenwerke liegen auf seinem Regal und harren der Aufführung. Eine Reihe von Orchesterliedern erscheint demnächst und ein mächtig angelegtes Oratorium »Die Jakobsleiter«, deren tiefernster, freireligiöser Text demnächst erscheint, geht eben der musikalischen Vollendung entgegen. Schönberg erzählte mir von den technischen Besserungen dieser letzten Werke. Von den »chorischen Holzbläsern«, die er einführt, um gleichfarbige Bläserwirkungen zu erzielen, sowohl in Form des vieltönigen Akkords, als auch zum Zweck eines mächtigen Forte der Bässe. Wieviel an tatsächlicher Wirkung er gegenüber dem Aufwand an Orchesterspielern haben wird – er erhebt beispielsweise auf acht Kontrafagottisten Anspruch – wird die Praxis erweisen müssen.
Aber eine andere Reform muß bei einigermaßen fortschrittlicher Gewinnung gutgeheißen werden: die Schönbergsche Neugestaltung der Partitur. Ueber alle bereits in dieser Richtung unternommenen Kompromißversuche hinweg hat Schönberg seinen jüngsten Partituren eine Form verliehen, die klavierauszugähnlich genannt zu werden verdient: alle Stimmen sind im Violin- und Baßschlüssel gespielt [sic]; alles, was im Violinschlüssel steht, ist in den Systemen der oberen Seitenhälfte verzeichnet, das im Baßschlüssel Geschriebene darunter; alle gleichen Rhythmen stehen unmittelbar übereinander; ebenso führende Stimmen und Nebenstimmen; jede Stimme, die von mehreren Instrumenten gespielt wird, ist nicht für jedes Instrument einzeln vermerkt, sondern steht nur einmal da und ist mit dem Namen der betreffenden Instrumente versehen; sämtliche transponierenden Notizen entfallen.
Daß diese Neuerung bei vielen Kapellmeistern, die an den gelehrten, aber überflüssigen und vielfach – ach so verzopften Schwierigkeiten der geltenden Partitur ihren Gefallen finden, auf Widerstand stoßen wird, steht außer Frage. Aber was ihnen bei der Schönbergschen Form durch das Ungewohnte erschwert wird, wird ihnen durch die ungleiche höhere Uebersichtlichkeit des Ganzen erleichtert. »Bei meinen Partituren kommt für den Kapellmeister jede Schreibweise auf das Gleiche heraus«, bemerkt Schönberg nebenher.
Das einmal angeschlagene Thema »Instrumentation« wird weiter besprochen. Rasch wechseln in Gesellschaft eines dritten hinzugekommenen Musikers die Gedanken und ehe man sich umsieht, hat man wieder mal etwas gelernt – man bewundert Schönberg, den Lehrer.
Allerdings steht nun auch dieser vor der neuerlichen Einrückung. Schönberg zählt dreiundvierzig Jahre und es wird sich zeigen, ob er beides wird vereinigen können: als Landsturmgefreiter mit Einjährig-Freiwilligen-Abzeichen Dienst zu tun und seine Pflicht als Künstler und Lehrer zu erfüllen.

Neues Wiener Journal (18. September 1917)